Über die Unvermeidbarkeit des Vergessens in der Erinnerungsarbeit

Öffentlicher Vortrag im Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Düsseldorf e.V.

Prof. Dr. Björn Krondorfer

Seit Sigmund Freud gilt in der Psychoanalyse das Erinnern als Voraussetzung für das Durcharbeiten neurotischer Störungen und traumatischer Erfahrungen. Freud schrieb in seinem berühmten Trias Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914) dem Erinnern eine heilsame Wirkung zu. Seitdem wird Erinnern mit dem Vorgang der „Bewusstwerdung“ gleichgesetzt. Die psychoanalytische Technik soll das Erinnern ermöglichen. Gleichzeitig stehen dem Erinnern „Widerstände“ entgegen, die mit der Unverträglichkeit der verdrängten Inhalte für die Psyche zu tun haben.

In der psychoanalytischen Holocaust-Forschung wird dem Erinnern eine heilsame Wirkung zugesprochen. Dabei geht es darum, die Psyche überflutende Trauma-Splitter, die eine desintegrierende Wirkung haben, nach und nach in Sprache zu fassen und in den biografischen Kontext zu integrieren. Auch hierbei werden in einem dialektischen Prozess von Ausgesetzt-Sein und Schutz-Suchen oft Grenzen des Erträglichen erreicht. Viele Überlebende haben deshalb nie über ihr Leid sprechen können.

Auch die Täter sollen sich ihrer Taten erinnern und sich ihrer Schuld stellen. Im Zuge dieses Diskurses gilt meist das „Vergessen“ als etwas Verwerfliches, zumal es viele Täter gibt, die aus opportunistischen Gründen ihre Taten leugnen. Dabei wird aber übersehen, dass auch das sich Erinnern an eigene Täterschaft zu unerträglichen Gefühlen von Schuld und Scham führen kann. Meist werden diese deshalb abgewehrt und unbewusst an die nächste Generation weitergegeben. Der moralische Imperativ des „Niemals Vergessen“ greift hier zu kurz.

Als Religionswissenschaftler hat Björn Krondorfer einen offenen, die Erkenntnisse anderer Wissenschaften integrierenden Ansatz. Er befasst sich in seinem Vortrag mit der Beziehung zwischen der nötigen Erinnerungsarbeit und der Unvermeidbarkeit des Vergessens bei der Aufarbeitung des Holocaust. Dabei wirft er die Frage auf, ob die nötige Erinnerungsarbeit nicht erst durch das gleichzeitig stattfindende Vergessen möglich wird. Müssen Überlebende nicht auch vergessen können, damit sie von ihren schmerzlichen Erinnerungen nicht überflutet werden? Könnten die Täter sich eher der Schuldhaftigkeit ihrer Taten stellen, wenn ihnen die Möglichkeit begrenzten Vergessens gegeben würde? Und wie schaut es mit dem Vergessen und Erinnern in den Nachfolgegenerationen aus? Vergessen soll nicht mit Leugnen gleichgesetzt werden. Krondorfer betrachtet das Vergessen nicht als Hindernis der Erinnerung, sondern als ihren notwendigen Begleiter.

Prof. Dr. Björn Krondorfer ist in Deutschland geboren und seit 1983 wohnhaft in den USA. Er ist Direktor des Martin Springer Instituts an der Northern Arizona University und Professor für Religionswissenschaften am Department für Vergleichende Kulturelle Studien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Themenbereiche  „Studien zum (Post-)Holocaust“, „Studien zur Versöhnung“ sowie „Religion und Geschlecht“.  Er ist Träger des Norton Dodge Preises für wissenschaftliche und kreative Leistungen. Auf nationaler und internationaler Ebene fördert er interkulturelle Begegnungen und Versöhnungsarbeit, in jüngster Zeit in Südafrika und Israel/Palästina.

Zu seinen Publikationen gehören unter anderem:

  • Men and Masculinities in Christianity and Judaism (2009)
  • Mit Blick auf die Täter: Fragen an die deutsche Theologie nach 1945. (2006)
  • Das Vermächtnis annehmen: Kulturelle und biographische Zugänge zum Holocaust. Beiträge aus den USA und Deutschland. (2002)
  • Von Gott reden im Land der Täter: Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah. (2001)
  • Rememberance and Reconciliation: Encounters Between Young Jews and Germans (1996)